Unter dem Titel „Aufzeichnungen“ zeigt Esther Hiepler Arbeiten, die während und seit ihrem Marseilleaufenthalt im Jahr 2010 entstanden sind. Der Begriff „Aufzeichnungen“ spielt dabei mit den Komponenten der Verzeichnung eines Prozesses, dem Grund, worauf die Zeichnung entsteht und der Zeichnung als Produkt.
Auffallend ist zunächst, dass Esther Hiepler nicht nur auf Papier oder auf die Wand zeichnet, sondern den klassischen Zeichenraum auslotet und erweitert; Fotografien, welche Arbeitsprozesse dokumentieren, hängen neben Aquarellzeichnungen und setzen eine Spur aus der Vergangenheit neben eine der unmittelbaren Präsenz des Originals. Fotografie verbindet sich in der Rauminstallation aber auch mit Objekten und Produkten, welche zeitliche Abläufe und Arbeitsprozesse verdichtet darstellen; es handelt sich um End- und Restprodukte der Herstellung von Essenzen und Destillaten. Löwenzahnhonig und Löwenzahnlikör stehen neben ausgepressten Blütenkugeln, das vermeintlich Wesentliche neben dem Übriggebliebenen oder dem Negativ. So ist es eine Verschiebung und Erweiterung des Fokus’ von der Mitte an den Rand oder aber ein Zurückbuchstabieren der Abstraktion. Die Frage ist nämlich hier nicht nur, “was kann man weglassen?” sondern ebenso: “was war der Rest?”.
Materialien und ihr Wesen, ihre Transformierbarkeit und der Versuch, sie in einem zeitlichen Ablauf und einem Ende gleichzeitig zu begreifen, ist eine andere Annäherung an die in der Zeichnung abstrakt vorhandenen Elemente „Linie“ und „Punkt“, die als symbolische Zeichen für „Fliessen“ und „Stillstehen“ begriffen werden können.
Am Anfang der neueren Arbeiten, wovon hier zwei Gruppen zu sehen sind, steht die persönliche Verschiebung des Arbeits- und Lebensortes von Basel nach Marseille. Eine bunte, pulsierende Stadt voller Farben, Vitalität und mediterraner Geschäftigkeit. Ein perfektes Umfeld, neue sinnliche Eindrücke in die Arbeit einfliessen zu lassen, das gewohnte Repertoire auzutauschen oder zu ergänzen. Künstler wie Cézanne, Macke, Picasso und Braque arbeiteten hier und fanden reichlich Inspiration für ihre Malerei.
„Inspiration kann man nicht bestellen“ – ¹ Die Arbeitssituation löste wider Erwarten keinen farbigen Sturm auf dem Papier aus, sondern eher einen Filmriss, eine Krise und damit ein Befragen der eigenen Arbeitsgrundlagen. Neben intensiven Erkundungen und Sich-Beeindruckenlassen standen tastendes Suchen, Recherchen in der Kunstgeschichte und schliesslich die Produktion von der anderen Seite der Produktion her.
Inspiration kam mit dem Drehen des Spiesses, sowie dies Bruce Nauman in „mapping the studio“ gemacht hatte, indem er die Nacht in seinem Atelier verfilmte und damit den Ort des Kunstmachens selbst, den Behälter oder das räumliche Negativ der Arbeit als Arbeit definierte. „sowohl Bruce Nauman also auch Fellini machen selbst aus der Ideenlosigkeit und der Inspirationskrise noch grossartige Arbeiten“ ² Esther Hieplers Ortswechsel provozierte das Neuerfinden und Neufinden des Ortes ihrer Arbeit und die Beschäftigung mit künstlerischem Arbeiten im Allgemeinen. Was braucht es, dass eine Arbeit eine Arbeit wird? Was ist, wenn das Ziel, eine Arbeit zu machen, das Arbeiten verunmöglicht? Welche Dinge gilt es zu vergessen, wenn man einen neuen Schritt tun will, wenn man mutig sein will, aber Angst hat, den Sinn zu verlieren?
Auf den Spuren an den dünnen Wänden ihres neuen Ateliers, das überdies von den geschäftigen und geselligen Geräuschen der Nachbarkünstler erfüllt war, suchte sie Wurzeln für neue Zeichen und Zeichnungen und schöpfte aus den Resten künstlerischen Elans etwas Neues. Und aus etwas Rhythmus, kleinen Vorgaben und Spuren ergab sich die Möglichkeit, dazwischen auch eine Pause einzulegen und aus der Ruhe das Tun zu reflektieren.
Die Pause musste im Atelier und alleine stattfinden. Das Kaffeemachen legte das Muster für ein rituelles Tätigsein nach bestimmten Regeln, mit einem Ziel, das klar vorgegeben, jedoch nicht existenzielle Wichtigkeit hatte, sondern vielmehr das Gegenstück zur Kunst werden konnte. Das Gegenstück, woraus und worin neue Arbeit überhaupt entstehen kann. Albrecht Dürers Melancholie aus dem Jahr 1514 zeigt eine ebenso Pausierende, den Körper, die Hände und die Werkzeuge ruhen, während der Geist wacht und einen Blick zurückwirft. Die Vollendung der Tat erfolgt erst durch das Erkennen ihrer Unvollkommenheit, welche selbst wieder einen Neubeginn, einen neuen Versuch ermöglicht.
² ebd.