Bevor wir loszogen hatten wir uns überlegt, dass es ein viertes Land geben müsste, an den Grenzen der drei Länder Deutschland, Frankreich, Schweiz; dort wo sie zusammenstossen, an ihren Rändern. Ein Randland, das sich jenseits klarer Definitionen befindet.
Unsere Reise begann direkt vor unserer Haustür. Mit Rucksack und Fotoausrüstung wechselten wir die Rolle von Bewohnern zu Reisenden. Wir waren vier Tage zu Fuss unterwegs und übernachteten in drei Hotels; in jedem Land einmal — direkt an der Grenze zum nächsten. Wir reisten wie in grosser Ferne, obwohl unser Zuhause nie mehr als eine Stunde Fussmarsch entfernt war. Wir schauten unsere nächste Umgebung an, als hätten wir nie etwas Ähnliches gesehen. Selten haben wir uns so fremd gefühlt, wie auf dieser Wanderung, auf der wir ständig in unmittelbarer Nähe von zu Hause waren. Wir kamen durch melancholische Bühnenbilder eines Films, den wir nicht kannten. Wir fanden verlassene Landschaften, Treppen, die ins Ungewisse führten, eingezäunte Paradiese, Wege ins Dickicht, böse Häuser. Wir wanderten durch Parallelwelten: Durch wildromantische Wäldchen entlang der Autobahn, aus dem Freizeitidyll der „Langen Erlen“ auf das Ausschaffungsgefängnis zu, an der psychiatrischen Klinik vorbei, durch Schrebergärten zu den rauchenden Schloten der Kehrichtverbrennung. Unsere Hotelzimmer waren anonyme Orte, zwielichtig, trostlos oder der Aussenwelt entrückt.
Wir überquerten ständig Grenzen und Zölle oder gingen an Grenzen entlang. Die unüberwindbaren Grenzen aber waren Autobahnen und grosse Strassen, die uns den Weg abschnitten und zur Umkehr zwangen. Die Begegnungen mit den Bewohnern des vierten Landes waren seltsam, manche feindselig. Misstrauische Blicke begleiteten uns auf dem ganzen Weg. Als Wanderer mit Fotoausrüstung, in Gegenden, in die sich kein Tourist verirrt und die kaum für abbildungswürdig gehalten werden, waren wir verdächtig.
Einmal wurden wir von zwei Rentnern angesprochen, die uns den Abend zuvor heimlich beobachtet hatten. Als wir unser Tun erklärten, wurden sie gesprächig und erzählten von Bijou-Max, der einst im Hochhaus an der Grenze eine mondäne Bar betrieben hatte. Eine Italienerin erläuterte uns alle Fotos vergangener Zeiten an den Wänden ihres Cafés. Sie trauerte dem Alten nach und beklagte sich über die vielen Ausländer. Am Schluss sagte sie: „Danke, dass ich Sie begeistern durfte.“ Ein wilder Bärtiger, der sich mit Wohnwagen und Eisenbahnwaggons im Wald verschanzt hatte, schrie uns an, als wir uns ihm näherten: „Hab ich euch eigentlich eingeladen?“ Er hörte nicht auf zu schreien, auch als wir längst auf dem Rückzug waren. Ein alter Mann in einem Schrebergartenareal erzählte von Diebstahl, und dass sie deshalb das Gebiet abriegeln müssten. Ihm waren zwei Pfosten gestohlen worden — allerdings könnte es ja auch der Nachbar gewesen sein.
Beim Ausschaffungsgefängnis erzählte eine Frau, die Asylsuchende berät, vom Nachbar, der diese anfänglich immer erschiessen wollte. Jetzt hätten sie allmählich Frieden mit ihm. Durch den sonnendurchfluteten, blumigen Park der psychiatrischen Klinik ging ruhelos ein Mann und schrie: „Weil ihr Angst habt, weil ihr Angst habt!“ Wie einen Refrain wiederholte er den Satz, laut und an niemanden gerichtet.
Eine Zusammenarbeit mit Max Philipp Schmid, 2010
Text veröffentlicht im Magazin „Das vierte Land“, produziert von Audiorama für die Dreiländeroper