Blog: Im Atelier

Die Arbeit im Atelier, das Feld der Kunst und die Umstände des Künstlerinseins bilden den Ausgangspunkt für das Nachdenken über Produktivität und Pausen, Leistungen und Unterlassungen, Festhalten und Vergehen.

Der Blog ist seit 2021 als Fortsetzung der Publikation «Im Atelier» (Vexer Verlag St.Gallen) online.

hier gehts zur Publikation «Im Atelier»


Manganblau

Im Atelier ist friedliche Stimmung und ich suche nach dem Blau eines wolkenlosen, tief blauen Sommerhimmels. So wie ich ihn aus Marseille kenne oder auch aus Montréal. Hat dieses Blau mit der Nähe des Meeres zu tun oder schien mir der Himmel einfach viel blauer, wenn ich weg war von zu Hause?

Auf der Suche nach dem Blau gerate ich in ein Gewirr von Nummern und Namen und tauche immer tiefer in die Zusammensetzung der Farbe ein. Es begann mit Manganblau – ein Pigment das ich im Sommer verarbeitet hatte, als Hommage auf den Himmel und das Blau des Schwimmbeckens, in dem ich regelmässig meine Bahnen schwamm. Diese Farbe, der Himmel, das Becken, das Wasser, machen mich fröhlich, gut gelaunt.

Unter der Bezeichnung «Manganblau Phthalo» finde ich verschiedenste Blautöne, die je nach Hersteller, je nach Bindemittel, völlig unterschiedlich ausfallen. Das Pigment heisst auch PB 15 und taucht unter immer wieder neuen Namen auf: Azurblau, Himmelblau, Coelinblau, Manganblau. Dann die Nummern: 582, 152, 572, 513, 945… so viele Nummern für die Sehnsucht nach Sommer!

Meine Suche und Versuche mit dem Blau haben einen schönen Effekt, nachdem ich etwa ein Jahr lang praktisch nur mit Schwarz gemalt habe. Wenn ich ins Atelier komme strahlt mich diese Farbe an, egal wie grau es draussen ist. Abends gehe ich mit dieser Farbe vor dem inneren Auge ins Bett, als sei sie förmlich in mich hineingeflossen.

Eine Doppelseite Azurblau, Marseille, 2010


Nichts tun

Gelesen von Esther Hiepler, ausgestrahlt von Radio X am 4. November 2023 anlässlich des VIA Jubiläums.


Häuser fangen

Jedes Jahr fahre ich mit dem Zug durch die spanische Mancha. Auf einer dieser Fahrten begann ich Häuser zu fangen. Mich interessierte die minimalistischste Version eines Hauses: ein kleiner Kubus mit Dach und Tür – mehr nicht. Oft leuchtend weiss, einzeln in der flachen leeren Landschaft stehend und schon von weitem sichtbar. Ich konnte Ausschau halten, dann mit der Kamera heranzoomen und das vorbeifahrende Häuschen in einer kurzen Aufnahme festhalten, ja regelrecht fangen.

Während der Zug durch die Landschaft rattert und die Mitfahrenden in ihre Geräte schauen, denke ich über Veränderungen nach; über die Veränderungen der Landschaft und der Geräte. Erinnere mich an meine erste Videokamera, an ihr Surren beim Anschalten und die Autonomie die diese Anschaffung bedeutete. Aber Vorsicht – jetzt nicht der Gerätenostalgie verfallen.

Die Romanfiguren Don Quichotte und Sancho Panza auf ihrem Ritt durch die Mancha fallen mir ein. Von den Windmühlen, gegen die sie anritten, existieren noch drei Originalbauten aus dem 17. Jahrhundert. Hübsch stehen sie auf einem Hügel, Zeichen einer längst vergangenen Industrialisierung und Moderne. Wie nostalgisch wird die Reisende der Zukunft auf die neuen Windräder und Windparks, die an mir vorbeiziehen, schauen?

Mit dem Handy habe ich noch mal kurz versucht ein paar Häuser zu fangen, nur so zum ausprobieren. Zufällig habe ich zwei der Häuschen wieder erwischt. Dass sie, nach so langer Zeit noch stehen ist erstaunlich und irgendwie berührend. Viele der Minihäuser haben neu eine Solarzelle bekommen, die sie mehrfach überragt. Diese Häuschen sind vermutlich vom einfachen Schuppen zu einem eigentlichen Kraftwerk aufgestiegen, um ihre Solarzelle zu betreiben.

September 2023

zur Serie «Häuser fangen» von 2003

Häuser fangen, Handyfoto, Spanien, 2023


Mangangrau

Bevor ich eine Farbe verwende, lese ich die Beschreibung des Pigments in «Werkstoffe und Techniken der Malerei» von Kurt Wehlte. Das dicke Buch ist wie die Bibel für Malerei und behandelt sorgfältig alle benötigten Materialien. Mir gefällt die Sprache, die ich wie Lyrik lese. Die beschriebenen Eigenschaften des Pigments erscheinen mir geradezu tugendhaft. Mangangrau:

Beständigkeit: Hervorragend in jeder Hinsicht.
Verträglichkeit: Einwandfrei.
Konsistenzstabilität: Normal.

Das feine Pigment lässt sich sehr ergiebig auf dem Papier verreiben. Es ist schön mit den Fingerspitzen immer weiter zu reiben, bis eine grosse, dunkle, graue Wolke entsteht. Manchmal ist Grau eine Notwendigkeit. Wenn das Grelle, Heisse, Laute draussen in keinerlei Übereinstimmung steht mit der inneren Bewölkung.

Dann lasse ich die grauen Storen runter, stelle den Ventilator an, dessen Rauschen alle Geräusche einebnet. Und tauche ins Mangangrau ein.

Juni 2023


Blüten

Zurzeit gibt es wieder viel über Geld zu lernen. Experten erklären den Fall der Banken, die Risiken, die Misswirtschaft und dass alles anders werden muss oder warum manches doch eher so bleiben sollte. Immer wieder versuche ich zu verstehen und andere versuchen es verständlich zu machen. Hier ein Zitat aus dem sehr lesenswerten Buch «Vom Gelde – Briefe eines Bankdirektors an seinen Sohn» geschrieben 1921. «Geld ist die Verkörperung eines Güteranspruchs, der dadurch entstanden ist, dass jemand etwas geleistet, die Gegenleistung aber noch nicht erhalten hat.»

Kurz vor der letzten Finanzkrise habe ich im Atelier begonnen eine eigene Währung zu produzieren. Holzdrucke, grob geschnitzt, die Zahl 5000. Den Druckstock bearbeitete ich mehrmals, bevor ich eine neue Anzahl Noten druckte. Nach der letzten Bearbeitung war die Zahl fast verschwunden und seither existiert eine Mappe mit einer unübersichtlichen Anzahl dieser, sich auflösenden, «Blüten». Die Bezeichnung für Falsch– oder Spielgeld kommt mir entgegen, da mir Blüten näher sind als Zahlen.

Das eigene Geld zu drucken kann als Verzweiflungstat angesehen werden. Als Selbstermächtigung oder auch einfach als Spiel. Mit dem Geldgeschehen da draussen, ausserhalb meines Ateliers, gibt es eher wenig Überschneidungspunkte. Ein Versuch, die zwei Welten einander näherzubringen, könnte sein die Drucke zu verkaufen und sie tatsächlich zu Geld zu machen. Nur: wieviel sollen sie kosten? Jemand riet mir sie direkt für fünftausend zu verkaufen, nur so sei es logisch und konsequent.

Hier nun mein Angebot mit einem starken Wertverfall und darauf folgender Wertsteigerung: Die ersten zehn Personen, die sich bei mir melden, bekommen eine «Blüte» für fünfzig Franken oder Euro. Danach wird gesteigert. Wahrscheinlich auf fünfhundert – der Logik zuliebe. Willkürliche Preissteigerungen und abrupte Konzeptänderungen sind jedoch nicht ausgeschlossen. Laufzeit: solange ich Lust habe.

Anfragen an: post@estherhiepler.ch
Und hier geht’s zur Videoinstallation: Mit Zahlen spielen

April 2023


Der Weg ins Atelier

Der Weg ins Atelier ist der Weg in die Arbeit. Ein Weg – nicht zu überspringen, sondern zu gehen, immer wieder von Neuem. Ideen und Vorhaben sind da und die Frage was zuerst kommt, was geplant werden soll, was spontan gemacht werden kann und was gar nicht gemacht werden soll.

Den Weg ins Atelier habe ich mir im Atelier aufgehängt. Acht Steinplatten, mit Graphit abgerieben auf eine lange Rolle Japanpapier. Die Steinplatten sind sehr konkret. Wie eine Aufzählung hängen sie an meiner Wand. Wie Schritte, die zum Bild geworden sind. Auf die Steinplatten folgen sieben Bäume. Die Zahlen haben keine besondere Bedeutung; die Steinplatten führten in ein kleines Landatelier, in dem ich einen Sommer verbracht hatte. Die Bäume standen im Wald, den ich täglich durchstreifte.

Meistens kam ich gar nicht bis zum Atelier, sondern bin gleich im Wald geblieben. Die Augen der Bäume interessierten mich, darum habe ich sie abgerieben und zum Bild gemacht. Und so den Wald in mein Stadtatelier gebracht. Hier, auf dem ausgerollten Papier an der Wand führt der Weg ins Atelier direkt in den Augenwald. Ich schaue die Bäume an und die Bäume schauen mich an und fragen: «Was machst Du denn jetzt so?»

Februar 2023


Anfangen und Weitermachen

Der zweite Pausentopf ist nun gefüllt und ich kann mit einem Neuen beginnen. Es ist nicht so, dass ich öfter Pause machen würde als zuvor, es interessiert mich einfach wieder mehr den Pausensatz zu sammeln. Auch beim neuen Gefäss, diesmal ist es ein Krug, weiss ich nicht wer es gemacht hat. Am Boden ist eine Unterschrift eingraviert: «Reillanne». Wer das wohl sein mag?

Bei diesem Krug interessiert mich besonders der enge Hals. Seine Öffnung ist noch kleiner als beim letzen Pausentopf. Diesmal werde ich einen Trichter brauchen, um den verbrauchten Kaffeesatz einzufüllen. Der Krug ist hellblau glasiert, die Farbe gefällt mir sehr gut. Ich finde das Gefäss hat etwas Hoffnungsvolles. Vielleicht auch durch den Gedanken, dass die Pausen darin richtig gut aufgehoben sein werden, weil sie durch die schmale Öffnung nicht so leicht rauskönnen. Obwohl – da der Krug auch einen Henkel hat, stelle ich mir vor, dass ich die Pausen irgendwann auch wieder ausgiessen könnte. Ganz, ganz langsam würden sie dann da herausrieseln.

Jetzt aber fängt erst mal das Füllen an. Dafür werde ich den Kaffeesatz nach dem Kaffeetrinken wirklich sehr gut durchtrocknen lassen, damit in dem geschlossenen Gefäss der Kaffeesatz weder stockt noch schimmelt.

Januar 2023

Mehr Pausentöpfe:
Zum Pausentopf Nr. 2 runterscrollen bis Dezember 2021
Und hier geht’s zum Pausentopf Nr. 1

Pausentopf Nr. 3


Winzigkeiten

Als ich mit den «Macros» begann, breitete sich Erregung aus, wie bei einer grossen Entdeckung. «Macros» nenne ich kleinste Details aus meinen Zeichnungen, die ich fotografiere und mehrfach vergrössert ausdrucke. Diese Winzigkeiten fallen mir während des Zeichnens auf, da ich wegen Kurzsichtigkeit oft ganz nah am Bild bin. In der sehr nahen Nähe sehe ich hervorragend. Das Macro-Objektiv der Kamera aber sieht noch mehr und durch das Vergrössern treten überraschende Spuren zutage.

Der Kugelschreiber hat Furchen in die Ölkreide gepflügt, die auf einmal wie dicke Spachtelmasse wirkt. Staubfädchen entwickeln eine geradezu provozierende Präsenz, als sei ihr genau dort Liegen, wo sie liegen, gewollt, und nicht Zufall, der es eigentlich ist.

Ein winziger Zeichnungsausschnitt wird zu grosszügiger Malerei. Das gefällt mir und ist zudem sehr effizient. Dass sich dadurch wieder unendlich viele Möglichkeiten für neue Bilder ergeben, kann hingegen überfordernd sein. Es ist ein guter Trick, effektvoll, auch irgendwie aufgeblasen. Ich denke an den Spruch: «Aus einer Mücke einen Elefanten machen». So gesehen gefällt es mir wieder, weil ich das aus dem Gefühlsleben gut kenne.

Mit der Methode sind mir schon einige düstere Bilder gelungen. Harmloses Bleistiftgekritzel mit ein wenig Tusche wurde zur grollenden Donnerwolke und kleine fein gestrichelte Kreise zu heranrollenden Kugeln, die wie schwere Planeten in schwarzer Lava versinken.

Dezember 2022

Hier geht’s zu den «Macros»


Im Urwald

Im Museum für Gegenwartskunst ist ein Raum von Vivian Suter eingerichtet. Als ich den Raum betrete, möchte ich gleich dableiben. Ganz lange. Könnte sogar mein Bett aufschlagen zwischen den hängenden Leinwänden, im Schutz der leuchtenden, sanften Farben und grossen Gesten. Die Leinwände wurden von der Versteifung durch die Keilrahmen befreit. Sie hängen unregelmässig von der Decke; man kann zwischen ihnen hindurch streifen, wie durch einen Wald, und staunen, was da so wächst.

Einzig eine kleine Plexiglasvitrine mit einer kompakt zusammengelegten Leinwand erinnert mich hier – inmitten dieses lebensfrohen Wachstums, der lichten Farben, der Kraft der Gesten – an den Tod. Wie eine kleine Mumie im gläsernen Sarg liegt die Arbeit da und schafft einen Gegensatz zum luftig-leichten, lichtdurchfluteten Raum. Wenn ich hier übernachten könnte, würde ich diese komprimierte Malerei gerne raus tragen und nur mit den hängenden Leinwänden sein.

Jemand erzählt mir, dass diese Art, die Bilder zu hängen, aus der Zusammenarbeit mit Adam Szymczyk entstanden sei. Er hat in der Kunsthalle Basel eine Ausstellung aus den achtziger Jahren mit vier lokalen Frauenpositionen wiederholt und aktualisiert. Damit und danach hat er wesentlich dazu beigetragen, dass jetzt Vivians Arbeiten ihren Weg hinaus in die Welt finden. Die verschimmelten und feuchten Leinwände aus Guatemala wurden aus den Kisten geholt und zum Trocknen aufgehängt und Adam empfahl ihr, die Arbeiten gleich so auszustellen anstatt auf Keilrahmen zu spannen.

Mit dieser Geschichte von Zusammenarbeit könnte ich beruhigt meinen Schlafplatz im Vivian-Raum beziehen und daran denken, wie ich sie zum ersten mal sah und welchen Eindruck sie bei mir hinterlassen hat. Ich war noch ein Kind, etwa neun Jahre alt, und besuchte sie mit meinen Eltern in ihrem Basler Atelier. Sie stand auf einer Leiter und trug einen farbverfleckten Overall. Damals malte sie dichte, vielfach überarbeitete Bilder, in denen sich die leuchtenden Farbaufträge reliefartig aufwölbten. Grosse, trotz ihrer Farbigkeit, schwere Werke. Mein Vater hat ihr das erste Bild abgekauft; es hing lange in seinem Arbeitszimmer in Spanien. Nach seinem Tod habe ich entdeckt, dass es nur noch einen kleinen Ausschnitt dieses Bildes gibt. Mein Vater hat reduziert und verkleinert und diese Reduktion machte nicht halt vor der Kunst. Wie ein fernes Echo hängt es jetzt als Erinnerung an das grosse, schwere Werk weit oben in einer Ecke des Wohnzimmers.

Vielleicht war es dieser Atelierbesuch, der dazu führte, dass ich danach, auf die Frage nach meinem Berufswunsch, jeweils «Malerin» sagte. Später traf ich Vivian immer mal wieder an und in unseren kurzen Gesprächen kamen auch ihre Schwierigkeiten als Künstlerin zur Sprache. Der Umzug nach Guatemala hatte sie vom Basler Kunstumfeld entfernt und obwohl sie viel malte, hatte sie kaum Ausstellungen. Sie brauchte viel Zeit und Energie, um ihren Sohn alleine aufzuziehen und das Hin und Her zwischen Basel und Guatemala zu bewältigen.

Heute bietet der Lebensort Guatemala, der Urwald und die Umstände, in denen ihre Arbeiten entstanden, eine märchenhafte Geschichte als Hintergrund für den späten Erfolg. Allerdings war das alles schon vorher da, auch schon im Kunstmuseum Olten, in einer der wenigen früheren Ausstellungen: Die Farben, die Gesten und auch die grossformatigen Fotos, die ihre Malereien mit der Umgebung verflochten.

Liege ich nun also in Gedanken im Vivian-Suter-Raum im Museum für Gegenwartskunst, kann ich doch nicht so gut einschlafen. Meine Gedanken schweifen zu den Tafeln der Guerilla-Girls, die ein paar Räume weiter in der Ausstellung «Fun Feminism» hängen. Sarkastisch zählen sie die Vorteile auf, die es hat, eine weibliche Künstlerin zu sein. Zum Beispiel: «Arbeiten ohne Erfolgsdruck», «die Möglichkeit, zwischen Karriere und Mutterschaft zu wählen» und «zu wissen, dass die Karriere nach dem achtzigsten Lebensjahr wieder Fahrt aufnehmen könnte».

Leicht bitter mischen sich diese Sätze in meine Freude, endlich diese Bilder zu sehen. Der Gedanke an all die Männer, die ich kenne, deren Karriere nur kurz, erst spät oder gar nie Fahrt aufnimmt, obwohl sie produktiv sind und wertvolle Arbeiten machen, relativiert das nur wenig. Ich tröste mich damit, dass Vivian jetzt, nachdem ihre Karriere richtig Fahrt aufgenommen hat, erst dreiundsiebzig Jahre alt ist und sie die neue Situation hoffentlich noch eine Weile geniessen kann. Und dann schlafe ich ein und träume vom Urwald in Guatemala, in dem eine Malerin immer weiter ihre Bilder malt.

Oktober 2022


Ideen

Ideen erscheinen zuerst zauberhaft und eine euphorisierende Ahnung liegt in der Luft. Dann, oft schon vor dem Anfangen, kommen Zweifel und Ernüchterung auf. Das Wissen, dass es eben nur eine Idee ist, die vielleicht in der Umsetzung ihren Zauber verliert, lässt den Mut ermatten. Erst mit dem Anfangen selbst, wenn man es denn schafft, kehrt Ruhe ein.

Manchmal ist das Ideen haben für mich so: Ein Zustand völligen Absorbiertseins. Die Gedanken in einer fernen Zukunft, in einer Projektion der Idee. Luftiger als eine Projektion. Unfallgefahr, weil völlig unaufmerksam, weil so gedankenverloren. Nicht mehr fähig zuzuhören, weil die Ideen frech und aufdringlich dazwischen funken. Der Realität enthoben, weder rücksichtnehmend auf Fähigkeiten oder Ressourcen, noch auf äussere Umstände wie Zeit und Raum.

Um anzufangen und etwas umzusetzen braucht es so viel mehr: Vorbereitung, Zeit, Ruhe, Entschlusskraft. Und falls etwas umgesetzt wurde, braucht es noch die Nachbereitung. Vor- und Nachbereitung sind nicht zu unterschätzen, das muss in den Zeitplan einbezogen werden. Wenn es überhaupt einen Zeitplan gibt. Etwas tun und beim Tun weiterentwickeln, ist dann wieder etwas ganz anderes.

September 2022


Räumen

Zuerst waren die Tagebücher dran. Seitenweise eng beschrieben, manchmal schöne Erinnerungen, auch viele Schwierigkeiten. Als der Schlund des Müllwagens den 60-Liter-Sack mit den Büchern verschlang, haben mir die Müllmänner zugewinkt. Ich stand am Fenster um sicherzugehen, dass die Bücher wirklich verschwinden, und nicht vielleicht der Sack platzt und meine Schriften sich auf der Strasse ausbreiten. Es war sehr befriedigend zu sehen, wie der braune Saft des Mischmaschs im Müllwagen über meinen Tagebuch-Sack läuft, und zu wissen, dass er in diesem grossen Ganzen bald in Flammen aufgehen wird.

Weiter ging es mit den Kunstkatalogen. Zum Teil ziegelsteinschwere, druckfrische Kataloge, die ich noch nie geöffnet habe. Reste meiner Lohnarbeit als Kunstdienerin. Ich habe die Ausstellungen auf- und abgebaut, die Werke aus- und eingepackt, geordnet, berührt und studiert. Sowenig wie die Aufzeichnungen meines bereits gelebten Lebens, brauche ich die komplette Archivierung der durch meine Hände gegangenen Kunstwerke. Dem Verbliebenen im halbleeren Regal gehört nun die frische Aufmerksamkeit.

Das Räumen braucht Zeit. Entscheide müssen gefällt werden, neue Verwendungen und Orte für Geräumtes gefunden werden. Deshalb war ich eine Weile nicht im Atelier. Generell räume ich viel häufiger auf, als ich mir das eingestehe. Das Aufräumen weist mir den Weg, zeigt mir, wo ich jetzt stehe, was gerade wichtig ist. Es ist die Basis für das Weiterarbeiten, es initiiert eine Pause, es schafft Platz für Neues. Aber ich rechne das meist nicht als Arbeit, obwohl es die Produktivität rahmt und ermöglicht, und oft mehr Zeit in Anspruch nimmt als das, was ich als die eigentliche Arbeit ansehe.

August 2022


Die Tür

Vor drei Jahren ist mein Vater gestorben. Seither bin ich Mitbesitzerin einer Tür. Hinter der Tür geht es weiter mit einem Geschenk, das gleichzeitig eine Aufgabe ist. Eine Aufgabe von der ich noch nicht genau weiss, wie sie lautet. Bevor mein Vater in die andalusischen Berge ausgewandert ist, war er in der Werbung tätig. Er hat mir von den Kunden erzählt, die beim Erteilen des Auftrages gar nicht wussten was sie wollten, weshalb ihr Auftrag erstmal definiert werden musste. In der Agentur begann deshalb jedes Konzept mit dem Satz: «Die Aufgabe lautet: …» Dieser Satz wird mich wohl die nächsten Jahre begleiten. Vielleicht kann ich nach dem Doppelpunkt jeweils eine einzige Aufgabe setzen: Eine pro Aufenthalt, ein– bis zweimal pro Jahr. So wie dieses Mal, als ich die Tür als Aufgabe angenommen habe.

Die Tür hat mein Vater in Úbeda gekauft. Dort gab es, wie mir erzählt wurde, viele zerfallende Villen und «Palacios». Möbel und Türen daraus wurden von den ansässigen Roma–Handwerkern renoviert und verkauft. Es könnte demnach sein, dass unsere Tür die Tür eines alten Palastes ist. Gross ist sie nicht – vielleicht eine Seitentür? Die letzten Tage habe ich also diese Tür gepflegt, die ganz ausgebleicht und verdörrt war, weil mehrere Stunden am Tag die Sonne heiss und hell darauf scheint.

Das Pflegen der Tür ist eine eigene Wissenschaft mit verschiedenen Ölen, die zu unterschiedlichen Anteilen gemischt und aufgetragen werden. Die Anleitung dazu habe ich in der «Oberflächenfibel» gefunden. Gerne bleibe ich an dieser Oberfläche. Zuerst schleife ich sie leicht an, dann spritze ich den Staub mit Wasser ab, warte bis die Tür trocken ist und beginne mit dem ersten Anstrich. Das Öl dringt tief ins bleiche Holz ein und nach mehreren Tagen und weiteren Anstrichen freue ich mich jedesmal wenn ich die Tür öffne, dass sie nun so wohlerhalten ist.

Mein Vater war nicht direkt ein Türensammler, aber hat doch einige gekauft und in verschiedene Häuser eingebaut. Die meisten dieser Türen sind zum Glück in der Obhut anderer Leute. Nie wäre ich auf die Idee gekommen, mir eine wirkliche, schwere, physische Tür anzuschaffen. Und doch habe auch ich sie gesammelt, flüchtiger, im Vorbeigehen. Sie interessierten mich als kompositorische Elemente in einer Fassade, als seltsame Materialansammlungen und Titel unbekannter Geschichten. Manchmal habe ich auch Türen gefunden ohne Haus und Grundstück, was ich auch interessant fand. Einige Türen in meiner Fotosammlung sind von hier, dem hellen andalusischen Bergstädtchen, wo ich viele Jahre bei meinen Vaterbesuchen herumflaniert bin, bevor ich meine erste Tür, zu der auch ein Schlüssel gehört, besitze.

Juli 2022, Cazorla

Hier gehts zur Sammlung Türen


Sandhügel

Kürzlich habe ich ihn wieder gesehen: den Sandhügel. Er stand in einer stillen Halle, einer ehemaligen Autogarage. Als ich kurz darauf wieder hinging, um ein Foto zu machen, war die Halle abgerissen und der Sandhügel weg.

Eine Zeitlang hatte ich einen kleinen Sandhügel in meinem Atelier. Er war wie eine Option oder ein Stellvertreter. Manchmal verschob ich ihn in eine andere Ecke des Raumes. Auch das erübrigte sich mit der Zeit, da sich draussen in der Welt der Sandhügel ganz ohne mein Zutun bewegt. Er verwandelt sich dauernd und taucht immer wieder in einer neuen Form und neuen Umgebung auf, mal in Spanien, mal in Berlin oder Basel. Schön ist zum Beispiel ein schwerbeladener Frachter, der mit drei grossen Sandhügeln rheinabwärts fährt. Ich schaue die Strasse zum Rhein runter und plötzlich ziehen zwischen den Häusern die Sandhügel vorbei.

In einem Film habe ich gesehen, wie Sand abgebaut, gehandelt und gestohlen wird. Wie Inseln und Strände verschwinden, da der Sand vom Meeresboden abgepumpt wird und diese Löcher dann wieder mit Strandsand aufgefüllt werden müssen. Für die Leute der verschwindenden Inseln müssen anderswo neue Häuser gebaut werden, aus dem Sand, aus dem die Insel bestand. Diese Häuser zerfallen jedoch, bevor sie genutzt werden, da der Sand nicht vom Meersalz gereinigt wurde und folglich der Beton bröckelt.

Der Film ist nun schon ein paar Jahre alt und die Sandhügel ziehen weiter. Mir erscheinen sie immer verheissungsvoll. Die Vielfalt ihrer Formen und die Möglichkeiten, die sie bergen; zu spielen, zu bauen, etwas zu erschaffen. Am Liebsten sind sie mir in dieser vorläufigen Form – bevor sie zu etwas Endgültigem verbaut sind.

Juni 2022


Kringel und Schlaufen

Ich stehe auf der grossen Leiter und setze einen schwarzen, breiten Pinselstrich an die obere Kante des Papiers. Der Pinsel ist mit viel Farbe gefüllt, so dass die Farbe stellenweise ausbricht und nach unten läuft. Es gefällt mir sehr, wie die schwarz glänzenden Tropfen langsam nach unten wandern. Wenn sie anhalten, vermale ich die verbleibenden Tropfen zu einer Linienblüte, einem Laufkringel oder einer Tropfenschlaufe.

Im Laufe der Zeit bin ich immer wieder bei Kringeln und Schlaufen gelandet. Unbeabsichtigt. Sie setzen sich einfach durch. Die Hand macht das gerne. Als Kleinkind hat mir mein Vater am Boden Papiere aufgespannt, auf denen ich meine Kringel gemalt habe. Später habe ich Schlaufen aus farbiger Knetmasse gemacht und im Ofen gehärtet. Von Renée Levi, die auch gerne Schlaufen und Kringel malt, habe ich einmal diesen Satz gelesen: «Es geht mir nicht um hübsche Kringel, ich möchte echte Kringel.»

Mai 2022


Überwältigung

Aus dem frühlingshaften Tag trete ich ein in die grosszügige Ruhe des Kunstmuseums. Nachdem mir im Text beim Eingang erklärt wurde, dass hier eine der bedeutendsten Künstlerinnen (Jenny Holzer) eine weitere der bedeutendsten Künstlerinnen (Louise Bourgeois) ausstellt, flaniere ich durch die Räume.

Zuerst treffe ich auf die riesige Maschine mit dem Titel «Twosome»: eine Art Zweisamkeits-Lokomotive bei ihrem unermüdlichen maschinellen Akt. Metall, aussen schwarz, innen rot, mit Alarmleuchte. Auf Schienen fährt eine Röhre langsam in eine andere Röhre hinein und wieder hinaus. Angezogen von Mehrdeutigkeit und Seltsamkeit umkreise ich das massive Objekt. Es wird behütet von einem jungen, zarten Aufsichtsmensch. Die Maschine macht fiese Geräusche und ich frage ihn, wie es ist diese zu bewachen. Er meint, es sei «schwierig» und lächelt dann: «Aber es geht».

Anfangs bin ich neugierig, angeregt, ermutigt. Manches sehe ich neu, vieles begeistert mich. Ermutigt bin ich vom Mut, den es braucht, diese Dinge zu machen, bestärkt von der Freiheit, welche die Künstlerin sich nimmt, all das zu tun, zu sagen, zu produzieren. Auf ihre Ideen zu vertrauen und sie dann auch auszuführen. Je weiter ich komme, desto mehr Zweifel machen sich breit. Die Massierung der Hängung, die Ausbeutung ihrer Schmerzen, die schiere Menge. Am Schluss fühle ich mich wie erschlagen, irgendwie klein, unter der Last dieser Produktion und der Wucht der von Jenny Holzer gewählten Dramaturgie.

«Machen Sie sich darauf gefasst, überwältigt zu werden.» stand in der Ankündigung der Ausstellung. Das bin ich nun. Erschöpft setze ich mich auf den kalten Marmorsitzblock im Museumsshop. Plötzlich ist mir alles zuwider. Die Grösse der Räume, die Kleinheit der wenigen Leute darin. Das Grau der Wände und Treppen, das gedämpfte Licht, die abweisenden Materialien, die Überwachungskameras. Im Shop gibt es Seifen und Kühlschrankmagnete mit den Texten von Louise Bourgeois. Auf einem Kaffeebecher steht: «I have been to hell and back. And let me tell you, it was wonderful.» Bedrückt verlasse ich das Museum durch seine gigantischen Gittertüren, überwacht von den Kameras.

März 2022


Das Spiel festhalten

Vergangenen Sonntag hat Fritz Hauser zu meinem Bild «Tropfenschlaufen» improvisiert. Auch die Tropfenschlaufen sind Improvisation. Ein Spiel mit der Schwerkraft, dem Fliessen, dem Zufall und dem Eingreifen in dieses Geschehen. Die Spur dieses Spiels ist nun eingerahmt und dadurch beinahe zum Möbel geworden: ein Möbel für eine Wand. Ein Möbel, das am Sonntag für zwanzig Minuten Perkussionszauber aus dem Lager hervorgeholt wurde, um nachher wieder darin zu verschwinden.

Der Moment geht vorbei. Die Worte versuchen ihn zurückzuholen, wieder zu beleben oder zu transformieren. Da war mein Bild, eine Trommel, ein Set Schlegel und Stäbe, verschiedene Besen, einige kleine Rasseln und Fritz Hauser, der die Klänge und Rhythmen aus diesen Dingen herausarbeitet. Er wirkt wie ein Mönch-Magier, der völlig vertieft, präzis und gleichzeitig verspielt seine Klangwelt zu den Tropfenschlaufen entwickelt. Schlegel fallen auf die Trommel, vibrieren am Rand, zittern nach oder wirbeln zu zweit. Die Rhythmen bauen sich auf, verwandeln sich, ein neuer Schlegel kommt dazu, ein anderer wird weggelegt. Der drehende, tiefe Klang zuvor bleibt in Erinnerung, während es später schabt und schlauft, wirbelt und tröpfelt.

Die kleinen Filmschnipsel und Fotos, die mir zugeschickt wurden, sind wie Beweisstücke, dass das Ganze wirklich stattgefunden hat. Fritz Hauser meint: «Ihr bildenden Künstler wollt alles aufbewahren, archivieren, unterschreiben, einrahmen.» Stimmt schon – nur was sollen wir machen? Eine Zeichnung ist nun mal da, nachdem sie gezeichnet wurde. Man kann sie weglegen, wegschmeissen, verschenken, archivieren und natürlich: aufhängen und zeigen.

Das ist der Vorteil seiner Kunst. Sie ist genau so lange da, wie sie gespielt wird. Der Moment ist konzentriert, kostbar, es gibt Wertschätzung durch Anwesenheit und Zuhören und am Schluss Applaus. Es wurde gespielt und erlebt, es könnte einfach vorbei sein. Ausser es gibt Aufnahmen davon, oder Worte dafür, die dann wieder irgendwo veröffentlicht werden wollen.

Februar 2022

Hier gehts zu den Tropfenschlaufen

Fritz Hauser & Tropfenschlaufen im Space 25, Basel am 13. Febraur 2022, Filmschnipsel von Lukas Stäuble, Franziska Furter, Peter Steinmann


Schachteln

Ich habe eine Schachtel freigeräumt. Darin befanden sich Probierblätter aus der Zeit, in der ich angefangen habe regelmässig zu malen und zu zeichnen. Die Blätter sind weder virtuos noch schön, auf billigem Kopierpapier, und waren nur dafür gedacht, Pinsel auszuprobieren oder Stifte zu testen. Weil mir aber diese Testblätter oft interessanter schienen als die Zeichnung, mit der ich jeweils beschäftigt war, habe ich sie alle aufbewahrt. Sie sind ein bisschen wie ein Tagebuch aus dieser Zeit, ein Echo der damals entstandenen Bilder.

Obwohl ich schon entschlossen war sie wegzuwerfen, habe ich jetzt ein Päckchen daraus gemacht und im Keller deponiert. Sie vom Keller aus wegzuwerfen, wird dann irgendwann einfacher sein als direkt aus dem Atelier. Immerhin sind sie aus dem Dunstkreis «Du könntest noch was damit machen» verschwunden.

Nun kann ich neue Zeichnungen in die Schachtel legen und damit auch diese vorerst aus der Sphäre der Optionen nehmen. Alles was frei im Atelier treibt – auf Tischen, am Boden und an Wänden – könnte noch weitergehen. Eine Zeichnung in der Schachtel ist ausserhalb des Blick- und Beurteilungsfelds und folglich eine Entlastung. Eine Zeichnung kommt dann in die Schachtel, wenn ich entscheide, dass darauf nichts Weiteres geschehen soll. Irgendwann kann ich dann die Schachtel öffnen und all die Zeichnungen mit einem distanzierteren, frischen Blick anschauen.

Miriam Cahn stellt ihre Werke beim Einrichten einer Ausstellung mit der Bildseite zur Wand, so dass sie sich nicht zu sehr sattsieht daran und die Bilder für sie eine Überraschung sein können. Silvia Bächli, erinnere ich mich, arbeitet mit unterschiedlichen Schachteln, in die sie ihre Zeichnungen ablegt. Die «Guten» sind eher oben in der Schachtel, die weniger interessanten unten, wobei durchaus etwas von unten nach oben wandern kann und umgekehrt.

Januar 2022


Anfangen und Weitermachen

Am ersten Januar einen Spaziergang zu machen und mir vorzustellen, dass nun etwas Neues beginnnt, ist eine Art Ritual. Manchmal passt irgendetwas auf dem Spaziergang zu dieser Idee: Einmal sah ich eine Frau ganz gerötet aus dem eisigen, dampfenden Rhein steigen. Dieses Jahr war es anders, da sofort Arbeit auf mich wartete, die im letzten Jahr begonnen hatte. Die Idee des Neubeginns pünktlich zu diesem Datum ist unsinnig und trotzdem mag ich sie. Da ich die Arbeit jetzt abgeschlossen habe, die am ersten Januar auf mich wartete, könnte ich das Neujahrsdatum für mich einfach verschieben. Jetzt fängt mein neues Jahr an: Mein Atelier ist aufgeräumt. Auch unfertige Sachen liegen vorläufig in der Schublade und ich kann schauen, wo es weitergehen soll. Ein gutes Gefühl! Vielleicht erstmal gar nichts machen?

Auf meinem verspäteten Neujahrsspaziergang bin ich wieder Kunstwerken für meine «Sammlung» begegnet, die ich über Jahre gepflegt habe und noch ab und zu ergänze. Dieses Sammeln war von der Idee geprägt, dass ich selbst nicht viel machen muss, da es alles schon gibt. Also ging ich spazieren und entdeckte, wo ich gerade war, meine Sammlung. Zuweilen ist etwas Bekanntes dabei – eine Arbeit von Robert Ryman, von Renée Levi oder von Richard Serra. Gleichzeitig wurden die Fundstücke zu eigenen Werken, die ich selber nun nicht mehr machen musste und überdies bereits veröffentlicht waren.

Januar 2022

Hier gehts zur Sammlung Weiss


Pausentopf Nr. 2

Ich sammle nicht mehr so fleissig Kaffeesatz wie früher. Aber immer wieder reut es mich, den Satz meiner Pausen wegzuschmeissen – also sammle ich ab und zu weiter. Heute habe ich angefangen, einen zweiten Pausentopf zu füllen. Das Gefäss dafür steht schon länger bei mir im Atelier. Wer es gemacht hat, weiss ich nicht. Als ich es fand, dachte ich, dass ich dieses Gefäss auch gerne gemacht hätte, wenn ich mit Glas umgehen könnte. Es ist innen milchig weiss und glatt, aussen rauh und kaffeebraun, wobei die braune Schicht abgekratzt wurde, um das Weiss wieder zum Vorschein zu bringen. Es war nicht einmal teuer, was mich erstaunte, weil es mir so besonders erschien.

Seit ich es besitze, wollte ich es mit meinem Kaffeesatz füllen. Als ich das dann heute gemacht habe, kam es mir vor wie Füttern. Weil das Loch des Gefässes so klein ist, musste ich mit dem Löffel zirkeln wie bei einem Babymund. Ein kleiner Schlund, in dem ein paar gesammelte Pausen von mir verschwinden.

Dezember 2021

Hier gehts zum Pausentopf Nr. 1

Pausentopf Nr. 2, Video 1'11", 2021


Erwartungen

Vor dem Wochenende habe ich ein Stück Papier auf den Boden gelegt und an den vier Ecken mit Gewichten beschwert. Nachdem das Blatt von der Rolle geschnitten ist, muss es erst mal ausruhen, aus der Biegung in die Fläche finden. Das weisse Blatt Papier ist hoffnungsvoll, rein, unberührt. Es kann etwas darauf geschehen, noch ist nicht klar, was es sein wird. Nur in meinem Kopf sind ein paar vage Vorstellungen.

Kenya Hara sagt: «Weiss ist Empfänglichkeit». Er hat ein Buch darüber geschrieben und benutzt grosse Worte, um das Weiss von Papier zu beschreiben: «Sein Weiss zeichnet sich durch ungestörte Stille aus, wie sie in den spannungsgeladenen, konzentrierten Momenten herrscht, bevor Dinge zum Ausbruch kommen, und durch das erregende Gefühl, dass etwas noch Unsichtbares in einer gigantischen Umsetzung münden kann.»

Genau dieses Gefühl würde ich als Fallstrick bezeichnen. Diese Vorstellungskraft, die manchmal vor lauter Erwartungen verhindert, dass überhaupt angefangen werden kann. Und wenn dann doch etwas getan wurde, die Erkenntnis reift, dass die «gigantische Umsetzung» durchschnittlich ist, ausserhalb der Extreme, in der sich die Phantasie bewegt. Um mich davor zu bewahren, versuche ich immer wieder, mich mit dem Durchschnittlichen, dem Massvollen, dem Unspektakulären anzufreunden, ja, es sogar anzustreben.

William Kentridge hat noch eine weitere Strategie. Er geht in die «Verteidigung der weniger guten Idee», für die er in Johannesburg ein eigenes Zentrum gegründet hat: nämlich das «Zentrum der weniger guten Idee». So wie ich es verstehe, hält er die gute Idee für geradezu machtversessen, die Aufmerksamkeit selbstherrlich einfordernd. Er möchte den weniger guten, den kleineren Ideen, die am Rande warten, ermöglichen in die Mitte vorzudringen.

Und dies sagt er in seiner «Drawing Lesson One» über die Begegnung mit dem weissen Blatt Papier: «This seeing into a blank sheet of paper feels familiar to me. (…) a clean piece of paper awaiting its deformation».

November 2021


Porträt

Alexandra Meyer war bei mir, um mein Blutporträt zu machen. Wir reden über unseren Künstlerinnenalltag und seine Hürden, während sie mir das Blut abnimmt. Sie erzählt mir, dass sie gerade die Seifenherstellung lernt und dabei eine schwarze, mit Kohle versetzte Seife produziert hat. Ich mag das Schwarz der Kohle und das Alchemistische des Objekts. Und mir gefällt die Vorstellung des gründlichen Händewaschens mit dieser Seife.

Mein Blut fliesst durch den Schlauch in die Ampulle. Sie sagt: «Manchmal glaube ich all diese Porträts machen zu müssen, verantwortlich dafür zu sein, dass die Sammlung vollständig ist». Nun ist auch mein Blut in ihrer Porträtsammlung und sieht aus wie jedes andere Blut – in einer Glasampulle, für immer aufbewahrt von Alexandra.

November 2021

Porträt Esther Hiepler von Alexandra Meyer, 2021


Windbilder und Wasserklänge

Im Garten habe ich mir ein Atelier eingerichtet. Auf dem riesigen Estrich des Bauernhauses bin ich herumgestreunt, um die Sachen dafür zusammen zu suchen. Ein Estrich wie aus meinen Kinderträumen. Spinnweben und Staub überziehen interessante, vergessene Dinge, verlassene Schwalben- und Wespennester hängen im Dach, bleiche Kletterpflanzen überwachsen die Szenerie.

Ich habe zwei Tische abgestaubt und mit Papier bezogen. Während des Malens rauscht der Bach und erzeugt eine Atmosphäre der Kontinuität. Die bemalten Papiere hängen an der Wäscheleine und werden vom Wind bewegt.

In den Pausen lausche ich in die Stille des Hauses, in das Knistern des sich entfachenden Feuers, in die verschiedenen Wasserklänge – beim Herausschöpfen des heissen Wassers für den Abwasch, beim Wiederauffüllen des Behälters für neues Heisswasser. Lausche in das Strömen des kalten Wassers aus dem Schlauch hinein in die grosse Metallschüssel.

Draussen fährt der Traktor, hin und her, immer wieder.

Oktober 2021, Soulce

Windbild, Video, 1'16", 2021


Pferdpinsel

Auf einer Wanderung habe ich eine abgeschnittene Pferdelocke gefunden und mitgenommen, mit der Idee, daraus einen Pinsel zu machen. Ich habe ein gerades Stöckchen gesucht und eine Weile mit dem Abschälen der Rinde und dem Glätten der Oberfläche verbracht, ohne zu wissen, wie und ob der Pinsel funktionieren wird. Sein Griff sollte schön aussehen und sich gut anfühlen. Beim Schnitzen breitete sich Ruhe aus. Die dreckige Pferdelocke habe ich gereinigt, die Pferdehaare in die gespaltene Spitze des Griffes eingeklemmt und mit Leim und Gartenbast befestigt.

Entstanden ist ein Pinsel in einem leuchtenden, geradezu beneidenswerten Blond, der beim Malen angenehm nach Pferd riecht. Kein Ich-Pinsel diesmal, sondern ein Pferdpinsel. Hier am rauschenden Bach, wo die Kühe und Pferde auf der Wiese glänzen, ist es einfacher, nicht mit sich selbst beschäftigt zu sein. Das Draussen ist verführerisch ablenkend und belebt. Es kommt Lust auf, auch noch einen Kuh-, einen Huhn- und einen Katzenpinsel zu machen.

Die Handhabung ist störrisch, so wie bei den anderen selbstgemachten Pinseln auch. So richtig malen kann man damit nicht – aber ihn einsetzen für Malerei schon. Die geeignete Methode muss noch gefunden werden.

Oktober 2021, Soulce

Hier geht’s zum Ich-Pinsel


Ruhige Dinge

Nach vielen Jahren war ich wieder mal bei den Ruhigen Dingen. Die grossformatigen Fotos in der Kaserne Liestal sind mittlerweile verblichen, eines davon ganz zerstört. Das soll jetzt ersetzt werden, nachdem jemand die Fotofolie mit den abgebildeten Kellen aus der Küche der Kaserne fast vollständig abgezogen hat. Die Polizei war da, um den Täter zu finden, hat ihn aber nicht gefunden. Ich kann mir gut vorstellen, dass es schwierig ist damit aufzuhören, nachdem man einmal angefangen hat, an so einem losen Stück Folie zu ziehen.

Während wir vor den Kellen und den Tabletts stehen und über Farbnuancen der zu restaurierenden Fotos sprechen, üben schwer bepackte Soldaten auf dem Truppenübungsplatz. Im Augenwinkel sehe ich sie in ihren Tarnanzügen, wie sie als dichte Gruppe hin und her galoppieren, höre dumpfe Rufe und Schreie.

Vor den abgebildeten Hemden und Betten im Eingangsbereich stehen jetzt Kanonen und Wachhäuschen. So eine Kanone war ein lautes Ding. Nun steht sie da, als Museumsstück, mittlerweile auch ruhig geworden. Das ganze Ensemble ergibt eine eigenartige, von mir so nicht geplante Installation. Wie ich das finden soll, weiss ich nicht so recht. Die Leiterin des Restaurierungsprojekts meinte: «Ich finde es noch cool.»

September 2021

Hier geht’s zum Projekt Ruhige Dinge


Kommentare und Bemerkungen gerne an: post@estherhiepler.ch

Lektorat: Alle Texte von September 2021 bis Oktober 2022  ausser «Die Tür» und «Porträt» wurden von Andrea Schweiger, Kunstwissenschafterin, ehemalige Leiterin und Fachreferentin Bibliothek für Gestaltung Basel, lektoriert.